Fernsehen 2022 ist wie ein Besuch im Restaurant: Entscheidet man sich für das Büffet „All you can eat“ oder isst man „à la carte“? Die Antwort liegt im Preis, den man dafür zu zahlen hat. Es stellt sich die Frage: Können wir uns finanziell leisten, „à la carte“ fernzusehen? Hier stößt der Boom der globalen Streaming-Portale an seine Grenzen. Am Ende werden diejenigen gewinnen, deren Film-Archive mit Blockbustern der vergangenen Jahrzehnte gefüllt sind und dazu gehören die Hollywood-Studios wie Paramount, NBC Universal, Warner Bros., Sony Pictures, Walt Disney.
Der scheinbar grenzenlosen Welt des non-linearen Fernsehens wird langsam ihre Endlichkeit bewusst. Der Hype vom neuen Fernseherlebnis, zu jeder Tages- und Nachtzeit, wo immer wir uns gerade aufhalten, stößt nach Jahren des Booms an seine Grenzen. Tektonische Verschiebungen des Zuschauer-Nutzungsverhaltens und der Geschäftsmodelle sind allgegenwärtig: Non-lineare Bewegtbild-Inhalte auf Smart-TVs, mobilen Endgeräten wie Smartphones oder Tablets bestimmen längst den Bewegtbild-Konsum aller Zielgruppen.
Der Bewegtbild-Nachschub sollte jedoch nach den Plänen der Streaming-Experten scheinbar unerschöpflich sein. Allein im Jahr 2021 sind laut Information des Senders CNBC nur in den USA 600 (!) neue Serien in Produktion gegangen. Allen voran die großen Streamingdienst-Anbieter NETFLIX, AmazonPrime, APPLE TV+ sowie DISNEY+, Bezahl-/Video-on-Demand-Anbieter wie SKY, DAZN und MagentaTV der Deutschen Telekom. Weitere große Hollywood-Studios öffnen ihre Archive für ein weltumspannendes Streaming-Angebot.
Wer aber soll, vor allem aber, wer kann dies alles bezahlen? Allein der monatliche Rundfunkbeitrag von ARD, ZDF und DeutschlandRadio liegt nach seiner jüngsten Anhebung derzeit bei 18,36 Euro und ist für viele Haushalte eine nicht unerhebliche Belastung.
In der Pandemie 2020/21 erwirtschafteten die großen Streaming-Anbieter rekordverdächtige Umsätze. Allein Netflix konnte in dieser Zeit nach eigenen Angaben 37 Millionen neue Abonnenten gewinnen, Disney+, der Newcomer am Streaming-Markt, erreichte, eigenen Angaben zufolge, innerhalb von nur 16 Monaten 100 Millionen Neukunden (!). War’s das? Offensichtlich scheint der Höhepunkt des Streaming-Booms, also die „peak subscription“, erreicht zu sein.
Auf der diesjährigen Fernsehmesse MIPTV, dem größten Lizenzmarkt für Bewegtbild-Angebote weltweit, äußerte Messe-Chefin Lucy Smith gegenüber der dpa: „Die Streaming-Dienste sind dazu gezwungen, möglichst schnell neue Inhalte, Trends und Ideen zu identifizieren und zu kaufen, um im harten Wettbewerb zu bestehen“. Und genau hier liegt der Casus knacksus und genau hier trennt sich die Spreu vom Weizen.
Streamingdienste wie NETFLIX oder APPLE TV+ können im Gegensatz zu den Plattformen der Hollywood-Studios nicht auf ein funktionierendes großes Archiv an Blockbuster-Produktionen zurückgreifen. Sie müssen für hohe Lizenzbeträge ihr Programmangebot entweder einkaufen oder für große Budgets neues Programm selbst produzieren. Wo die Grenzen liegen, hat erst vor wenigen Wochen der Branchenführer NETFLIX gezeigt, der erstmals seit mehr als zehn Jahren einen Rückgang seiner Abonnenten-Zahl verzeichnen musste.
Mittelfristig und langfristig wird Hollywood den internationalen Markt unter sich aufteilen. Nationale deutsche Anbieter wie öffentlich-rechtliche und private Programmveranstalter dürften sich in ihren regionalen wie nationalen Märkten mit bescheidenen Anteilen zufriedengeben. Auf der internationalen Bühne werden sie jedoch keine Rolle von Bedeutung spielen. Langfristig gesehen werden sich die Hauptanbieter aus dem Free-TV zurückziehen und ihre Lizenzvereinbarungen auslaufen lassen bzw. aufkündigen. Dadurch generieren sie erheblich mehr internationalen Traffic auf ihren eigenen Plattformen und dürften künftig ihre Zuschauer rund um den Globus direkt und weltweit zur Kasse bitten.
Deutschland gilt als einer der weltweit lukrativsten Märkte für die Betreiber von Streamingdiensten. Erst kürzlich hat der Deloitte Media Consumer Survey 2021 den Deutschen eine „hohe Zahlungsbereitschaft“ für Bezahl-Inhalte attestiert und ermittelt, dass drei Viertel aller deutschen Haushalte für Videostreaming durchschnittlich 1,5 Abos abgeschlossen haben – mit steigender Tendenz. Die meisten User in Deutschland stehen werbefinanzierten Video-on-Demand-Diensten aufgeschlossen gegenüber. Angesichts der Vielfalt an Anbietern wünschen sich mehr als ein Drittel der Befragten einen „one-stop-shop“ für den Videokonsum, wie beispielsweise Waipu.tv oder ROKU.
Bei allen sich ergebenden Herausforderungen für die TV-Branche in Deutschland verfügen unsere nationalen Programmveranstalter über eine Vielfalt von Programm-Angeboten, die den US-Anbietern in ihrem Portfolio fehlt: Lokale, regionale und nationale Berichterstattung, die täglichen Nachrichtensendungen und Specials, Live-Übertragungen großer Sport-, Show- und Kultur-Ereignisse, Dokumentationen, erstklassige Produktionen fiktionaler und non-fiktionaler Stoffe mit Bezug zum Lebensumfeld der Zuschauer in diesem Teil der Welt.
Entsprechend hoch ist die Akzeptanz, denken wir nur an Serien wie das international gefeierte deutsche Aushängeschild „Babylon Berlin“, welches in mehr als 35 Länder der Welt verkauft wurde, oder den ARD-„Tatort“. Das ist Qualitätsfernsehen made in Germany, quotenstarkes TV-Programm, das Millionen von Zuschauern regelmäßig und gern einschalten und erfreuen.
Fazit: Dieser Stärken sollten sich unsere Programmveranstalter immer wieder bewusst sein, bevor sie den Blick über den Atlantik in Richtung USA richten. Sie sollten sich aber endlich auch im Klaren darüber sein, dass nur Gemeinsamkeit stark macht, den internationalen Streaming-Anbietern etwas entgegenzusetzen. Umso befremdlicher ist zu beobachten, dass es zu einer geschlossenen Allianz aller deutschsprachigen – Österreich und die Schweiz eingeschlossen – bisher nicht gereicht hat. Um es klar zu sagen: Eine zentrale deutschsprachige Streaming-Plattform, bei der ja nicht die Unabhängigkeit des einzelnen Programmveranstalters aufgegeben wird, ist und bleibt alternativlos gegen die Übermacht der internationalen, primär der amerikanischen Player. Die deutschsprachige TV-Branche sollte dieser Herausforderung endlich gerecht werden.
Zum Autor:
Prof. Dr. Conrad Heberling, geb. in Brantford/Ontario, Canada, war dreizehn Jahre Director Corporate Communications und Investor Relations beim europäischen Chiphersteller ams OSRAM AG, weltweit führend in der Entwicklung und Herstellung von digitalen Hochleistungs-Sensorlösungen. Neben Berufsstationen als Marketing- und Kommunikations-Direktor bei RTL2 lehrt Heberling seit 2012 als Professor für Marketing und Marktforschung an der Filmuniversität „Konrad Wolf“ in Babelsberg und seit 2017 am Erich Pommer Institut in Potsdam für den Digitalen MBA/LL.M.. Darüber hinaus lehrt er „Digital Marketing and Communications Management“ an der SRH Berlin University of Applied Sciences Berlin School of Popular Arts.
An der Akademie für Neue Medien unterrichtet er u. a. das Seminar „Business English“.